Fr. Dorothee Mann:
„Botschaft in Glas und Licht“ – Zur Konzeption der Fenster in St. Dionysius
Autorisierte überarbeitete Fassung für mögliche weitere Veröffentlichungen
17.09.2003 (für die Richtigkeit Claus F. Lücker)
Liebe Brüder und Schwestern,
am heutigen Sonntag dürfen wir uns noch einmal ausführlicher der Botschaft zuwenden, die uns in den Fenstern dieser Kirche, den Fenstern des Krefelder Glaskünstlers Hubert Spierling, vermittelt wird. Gönnen wir uns also einen kleinen, wenigstens gedanklichen Rundgang durch diese künstlerische Komposition. Ich will vorausschicken, dass ich als Theologin über die Botschaft der Fenster spreche, nicht als Kunstexpertin. Wenn wir über ein Kunstwerk sprechen, müssen wir uns darüber im Klaren sein, dass die künstlerische Komposition eine Eigenständigkeit hat, die vom Wort nicht eingeholt werden kann; sie hat ihre eigene Sprache…
Beginnen möchte ich hier im Querhaus mit der Nordseite, den Fenstern zu meiner Linken. Das Thema dieses Triptychons ist Ihnen bekannt: KIRCHE. Nach meiner Auffassung ist es vom Altar aus, von links nach rechts, vom Alten zum Neuen Testament hin zu lesen. Beginnen sollten wir also ganz links mit dem Fensterbild der ARCHE NOAH. Die Erzählung haben wir alle im Sinn: Da ist die Rede von der Bosheit der Menschen, von Noah, dem einzig Gerechten, von Gottes Sorge um Noah. Die Arche, durch die Gott dem Noah, seiner Familie und den Tieren Schutz und Rettung vor der Flut gibt.
Spierling hat seine eigene, künstlerische Priorität gesetzt: Das, was in keiner Kinderbibel und in keinem Religionsbuch fehlen darf, lässt er souverän beiseite: die Tiere. Aber – da ist die rettende Arche, da ist im Zentrum Noah und sehr deutlich: sein Auge – Noah als Schauender. Angedeutet auch die Taube mit dem Zweig, angedeutet der Bogen in den Wolken (violett – blau), das Bundeszeichen. Spierling illustriert nicht, vielmehr hebt er das ins Licht, was zentral ist: Den Schutz Gottes, die neue Zukunft – geschenkt von Gottes Gnaden – die Noah schaut, der Bund, der bis heute gültig ist.
Mit dem Fenster, das sich in der Mitte anschließt, pendeln wir direkt ins Neue Testament: DIE STILLUNG DES SEESTURMS. Auch diese Erzählung hat Spierling völlig eigenständig verarbeitet. Wasser und Sturm lässt er beiseite, wohl aber zeigt er die Gefährdung an – in dunklem Grün und Grau. Da sind die Jünger im Boot angedeutet, und Christus ist mit im Boot. Das genügt. Wenn Er im Boot ist, ist es gleich, ob Sturm tost oder die Sonne scheint. Sinnspitze ist die Präsenz Jesu, das ICH BIN DA, seine rettende Gegenwart, auch im Tod.
Das rechte Fenster des Triptychons schließlich hat den reichen FISCHFANG zum Thema. Diese Perikope – ebenso aus dem Neuen Testament – wird erzählt im Kontext der Berufung der ersten Jünger. Es ist eine Berufungsgeschichte, ja – aber vor allem eine Geschichte großen Vertrauens: Die ganze Nacht haben diese gestandenen Männer hart gearbeitet: umsonst. Sie klagen nicht. Sie säubern die Netze. Das gibt es eben: schlechte Ernte. Sie sind müde, wollen nach Hause. Aber da kommt einer, der ihr Vertrauen derart herausfordert, dass sie noch einmal von vorn beginnen: “Auf dein Wort hin” – trotz negativer Prognosen, Hoffnung wider alle Hoffnung, Hoffnung – verbürgt in Jesus von Nazareth.
Der Künstler hat hier das Wasser dargestellt – in schillernd-lebendigen Farbschattierungen: Das Weiß wird heller und dunkler, geht ins Bläuliche. Was sich mir vor allem aufdrängt: Der Reichtum, die Fülle der Ernte. Fische sind angedeutet und oben Jünger, die ziehen, die arbeiten, sich mühen. Auch Netze sind zu erkennen. Wichtig ist die Bewegung: Die Bewegung in diesem Fenster geht von oben nach unten, und es scheint, dass die Jünger sich auch um das letzte Tierchen bemühen, das am Boden liegt.
Wir sehen also drei Bilder der Kirche: Arche – Boot im Seesturm – Wunderbarer Fischfang. Bereits in mittelalterlichen Bildprogrammen werden neutestamentliche Ereignisse von alttestamentlichen Vorbildern gedeutet und flankiert. Die rettende Arche gilt von alters her als Symbol der Kirche, die rettend und bergend durch das Meer von Welt und Zeit fährt; die Einwohner der Arche versinnbildlichen die verschiedenen Völker. Die Sintflut gilt als Präfiguration der Taufe.
Ich meine: Die ersten beiden Bilder: Die Arche und das Boot, – das sind zwei Bilder für den Schutz Gottes – damals und heute. Das dritte Bild vom Fischfang führt dann weiter – sozusagen: aus der Geborgenheit in die Sendung: “Ihr seid gehalten und getragen – nun geht, werft die Netze nochmals aus”. Die Gabe und Vorgabe Gottes wird Christen zur Aufgabe. Die Bewegung geht von Gott zu den Menschen, in diesem Bild: von oben nach unten.
Wenden wir uns nun der rechten Seite, der Südseite des Querhauses zu. Sie hat die EUCHARISTIE zum gemeinsamen Thema. Auch diese Dreiergruppe ist meines Erachtens vom Altar her, also in diesem Falle von rechts nach links, zu lesen. Auch hier beginnt Spierling mit unseren biblischen Wurzeln, einem alttestamentlichen Motiv: Das MANNA IN DER WÜSTE.
Auch hier geht die Bewegung von oben nach unten. Die angedeuteten Menschen (unten) empfangen nur, nehmen das auf, was ihnen von oben geschenkt wird. Das mittlere Fenster hat das ABENDMAHL JESU (Lk 22, 14-23; parr.) zum Thema. Ein wunderbares Fenster! Schauen wir hin. Ein kräftiges, leuchtendes Rot umbirgt die Gemeinschaft. Wir sehen – wie immer nur angedeutet – im Oval angeordnet – Köpfe im Licht, ohne Nimbus. Einen Nimbus hat allein Christus (links unten), der auch den Kelch hält. Silber-gelb wie der Nimbus Christi ist auch das Brot, das auf dem Tisch liegt. Alle Köpfe sind zur Mitte hin orientiert, nur unten rechts bricht eine Gestalt aus der Komposition heraus. Einer der Jünger wendet sich ab von Jesus; seine Bewegung drängt aus dem Bild heraus.
Das dritte Fenster (links neben dem Abendmahl) nimmt schließlich die WUNDERBARE BROTVERMEHRUNG auf. Diese Perikope wurde von Anfang an als Symbol der Eucharistie verstanden. Abendmahl wie Brotvermehrung – beide versinnbildlichen das gebrochene und geteilte Brot. Spierling legt in seiner Bildkomposition den Schwerpunkt auf das Teilen: Links, die helle, sitzende Gestalt, von der die Bewegung und das Teilen ausgeht: Christus. Unter ihm sind Körbe mit Brot angedeutet. Über ihm Figuren, die das Brot weiterreichen, die teilen, wieder andere Gestalten sind markiert (im oberen Drittel, rechts), die das Brot empfangen.
Manna – Abendmahl – Brotvermehrung – die Bewegung geht auch hier von Gott zu den Menschen, bzw. “von Christus zu den Menschen”: Christen wissen, dass sie das Brot – und damit alles, was sie zum Leben brauchen – zuallererst empfangen. Vor aller Mühe, vor aller eigenen Arbeit des “Broterwerbs” wissen wir Christen uns beschenkt: Das Entscheidende können wir selbst nicht machen, sondern es fällt uns zu; es ist Brot vom Himmel, Geschenk von Gottes Gnaden, das wir nur dankbar aufnehmen und weitergeben können. Übrigens: Sicher ist es kein Zufall, dass dem Fenster der Brotvermehrung auf der anderen Seite des Querhauses der große Fischfang gegenübersteht. Hier wie dort strahlen die Bilder Reichtum und Fülle aus.
Schauen wir uns noch die beiden letzten thematischen Fenster im Langhaus an. Auch diese stehen miteinander im Dialog – auf der Nordseite der TURMBAU VON BABEL (Gen 11, 1-9), auf der Südseite das Gegenstück: PFINGSTEN (Apg 2, 1-18). Beim Turmbau spricht die Bibel von der urmenschlichen Versuchung der Maßlosigkeit und Hybris: Es reicht uns nicht, einen Turm zu bauen; seine Spitze muss bis in den Himmel reichen. Die Bibel spricht vom urmenschlichen Streben, “sich einen Namen machen zu wollen” und damit unsterblich zu sein. Dies wollen die Menschen aus eigener Kraft schaffen; sie setzen alle ihre Mühen daran, diese fixe Idee zu verwirklichen. Sie “greifen nach den Sternen und fallen schließlich aus allen Wolken” (Bischof Franz Kamphaus).
In der Bibel ist die Pfingsterzählung als Kontrast zum Turmbau komponiert: Beim Turmbau nämlich versuchen Menschen “von unten” die Verbindung zum Himmel herzustellen; an Pfingsten dagegen wird die Verbindung vom Himmel her, von oben geschenkt. Beim Turmbau ist von einem Volk die Rede, das in einer Sprache spricht – und trotzdem verstehen die Menschen einander nicht. In der Pfingsterzählung werden viele verschiedene Völker genannt, die einander verstehen können, obwohl sie verschiedene Sprachen sprechen.
Diese Fenster Spierlings sind – auch aufgrund ihrer enormen Höhe von 8m – in drei Stufen komponiert. Beim Turmbau auf der Nordseite gibt es keine Bewegung von oben nach unten; das Ganze strebt eher auseinander. Amorphe, zerbrechende Steinformen fallen ins Auge. Eine scheinbare Symmetrie kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass das ganze Gebäude instabil und brüchig ist. Dazwischen sind menschliche Köpfe angedeutet. Aber – sie wirken disparat, stehen in keiner Beziehung zueinander, gehen unter in diesem Bauwerk – als würden sie zerquetscht. Die Spitze des Gebäudes ragt hoch in den Himmel.
Im Pfingstfenster kehrt das Rot des Abendmahls wieder. Das Fenster ist ebenso in drei Zonen komponiert, jedoch geht hier die Bewegung wieder von oben nach unten – noch besser sogar: es gibt einen Dialog zwischen oben und unten – die Bewegung fließt hin und her.
Unten können wir hörende Menschen erkennen, sie sind nach oben hin offen, empfänglich.
In der Mitte: Sprechende Menschen. Sie verkünden.
Im oberen Drittel: Der Einbruch des Feuers, des Geistes – sieben Feuerzungen, fast wie Speerspitzen. Das feurige Rot, das von oben kommt, verbindet oben und unten: Ein Bild kraftvoller Erfüllung! – Die Leute von Pfingsten, das sind Menschen, die mit mehr rechnen als mit sich selbst, deren Erwartungen nicht mit den selbstgebauten Türmen stehen und fallen, sondern die tatsächlich Neues erhoffen, die Gott erwarten und aufnehmen.
Diese großen thematischen Kunstwerke sind nun flankiert durch abstrakt-ornamentale Fenster. Auch der Altar wird umrahmt von zwei abstrakt gestalteten Fenstern. Dieser Dialog und diese Spannung zwischen den thematischen wie den abstrakten Fenstern ist m.E. besonders reizvoll. Nicht nur, dass die abstrakt gestalteten Fenster die Architektur des Raumes aufnehmen (etwa das Fenster vorne im Nordwesten – es nimmt die Säulen der Kirche und des Baldachins auf), sie nehmen auch die Farben und Formen der thematischen Fenster auf und ergänzen diese. Wenn bei den thematischen Fenstern starke Farben leuchten, ist hier ein Bereich der Ruhe. Es scheint, dass die thematischen Fenster geradezu gehalten und gestärkt werden von dem unaufdringlichen Farbspiel der anderen.
Wie ist das Verhältnis der thematischen Fenster zu den abstrakt-ornamentalen? Vielleicht so, wie das Verhältnis von Gebet und Arbeit, wie das Verhältnis von Schlaf und Tätigsein, von Sprechen und Schweigen? Es ist ein Verhältnis der Komplementarität, d.h. sie legen sich wechselseitig aus, geben sich wechselseitig Stand. In der Frauengemeinschaft, der ich angehöre, erlernte ich das Stundengebet der Kirche.
Worin liegt seine Kraft? Ich meine: sie liegt in der Pause. Innerhalb eines Psalmverses, dort, wo im Brevier das Sternchen gedruckt ist, machen Beterinnen und Beter eine tiefe Atempause, bevor der zweite Teil des Verses gesprochen wird. Nicht nur, dass auf diese Weise ein wohltuender Rhythmus entsteht, das auch. Aber vor allem: die Psalmen atmen, die Betenden kommen zu Atem – beruhigend, im Rhythmus, stärkend. So wird jeweils neu Kraft geschöpft, “Kraft aus der Höhe”. Sprache und Atem legen sich gegenseitig aus.Diese fruchtbare Spannung gehört zum Grundmuster des Lebens: Dass das Lebendige und Tätige sich irgendwann aller Macht und Eigentätigkeit enthält, auf sich selbst und seine Macht verzichtet, sich los-lässt, damit ein anderer (nämlich Gott) an ihm und der Welt wirksam werden kann: heilend, ausgleichend, stärkend. Ähnlich ist das Verhältnis der abstrakt- ornamentalen Fenster zu den Themenfenstern: sie umrahmen das Bildgeschehen, geben ihm Halt und zugleich “Luft”.
8 Themenfenster haben wir stichwortartig betrachtet; 8 Grundpfeiler der biblischen Botschaft. Viele Predigten wären zu halten, um dem umfangreichen Werk Spierlings annähernd gerecht zu werden, und es wäre lohnend. Nun werden uns heute in der Messe auch noch die beiden Lesungen des heutigen Tages geschenkt. Die Wolken- und Feuersäule in der Wüste sowie die Mahnung Jesu in der Bergpredigt: Sorgt euch nicht!
Tatsächlich sprechen Lesung und Evangelium von einer zentralen Eigenschaft Gottes, die in sämtlichen Glasmalarbeiten verborgen gegenwärtig ist: GOTTES TREUE! Die Arche, das rettende Boot Jesu, der reiche Fischfang, das Manna in der Wüste, das Abendmahl, die Brotvermehrung – Bilder der Treue Gottes zu unserem Leben!
Auf die Schlechtigkeit der Menschen antwortet Er mit der rettenden Arche, auf das Murren der Israeliten reagiert Er mit dem Manna, den Turmbau der Selbstdarstellung und Spitzenleistungen erwidert Gott mit neuer Berufung.
Von Gottes Treue berichtet die heutige Lesung. Die wolkenspendende Säule in der Hitze des Tages, die Feuersäule in der Dunkelheit der Nacht, Gottes Treue, damals wie heute!Das Evangelium spricht ebenfalls von Gottes Treue: “Sorgt euch nicht, euer himmlischer Vater weiß, was ihr braucht!”
Dieser Hinweis auf die Sorge des Vaters (“Euer Vater weiß ja…”) will uns dazu ermutigen, uns “nach oben” offen zu halten, damit die Bewegung “von oben nach unten” fließen, wirken und Raum nehmen kann. Die Sorge des Vaters will uns ermutigen, die Gegenwart als Kairós wahrzunehmen und uns nicht in der Sorge um alltäglichen Kleinkram (Nahrung, Kleidung) in uns selbst zu verschließen. Er will uns dazu ermutigen, die Offenheit der Zukunft auszuhalten – nicht zuletzt deshalb, weil die Zukunft in all ihrer Offenheit auf jeden Fall die Zukunft Gottes ist.
Unser Dasein beginnt mit dem Empfangen, nicht mit dem Tun. Wir sind uns vorgegeben. Wir haben uns nicht selbst gemacht. Dass das Leben letztlich unverfügbar ist und bleibt, dass am Anfang Gottes unverbrüchliches Ja zur Schöpfung und zu jedem einzelnen von uns steht, das ist die entscheidende Botschaft: Das ist die Bewegung “von Gott zu den Menschen”. Unsere Antwort darauf ist unsere Offenheit “von unten nach oben” (wie im Schauen des Noah, im Empfangen des Manna), damit Gott selbst immer neu ankommen kann in unserer Welt.
Bitten wir Gott um diese Offenheit.