Worte mit Durchblick II (10.08.2003)

Zwischen Supermarkt und Kneipe – wo es Himmelsbrot gibt.
Gemeindereferent Jürgen Maubach, Aachen

Zunächst einmal möchte ich mich ganz herzlich bedanken für Ihre Einladung, im Rahmen Ihrer Eucharistiefeier etwas sagen zu dürfen – zu den Lesungen, die wir gerade gehört haben, aber auch zu Ihren wunderschönen Glasfenstern von Hubert Spierling. Ich möchte mich in drei Schritten den Lesungen, dem Thema Brot vom Himmel, der Eucharistie, und dem Fensterbild-Triptychon im südlichen Querschiff annähern.

Der erste Schritt: Von außen gesehen – Bruchstellen der Transzendenz
Zwischen Supermarkt und Kneipe, wo es Himmelsbrot gibt. Dieser Titel provoziert ja besonders uns, die wir als Christen in die Eucharistiefeier kommen und mehr dahinter sehen, als nur ein Himmelsbrot. Wir, die Insider, mögen uns stören daran, aber versetzen wir uns einmal in die Sicht von außen, die Sicht der Menschen, die in diese City kommen. Die Mehrzahl kommt ja hierhin zum Arbeiten, zum Einkaufen oder um ihre Freizeit zu verbringen. Und ich glaube, wir treten diesen Menschen nicht zu nahe, wenn wir sagen, dass die Mehrheit von ihnen heute keinen Zugang mehr hat zum Geheimnis und zur Tiefe der Eucharistie.

Diese Kirche mit dem, was hier passiert, mit dem Leben, was sich hier abspielt, ist für sie eher ein Fremdkörper. Weil das, was wir hier tun, ihnen fremd geworden ist, oder weil ihnen unsere Riten unsere Bräuche fremd geblieben sind. Für intellektuelle Zeitgenossen ist diese Kirche noch ein kulturhistorisches Denkmal. Und für den Krefelder ist der Turm von St. Dionysius vielleicht ein Wahrzeichen, das zur Stadt gehört, aber mehr vielleicht auch nicht. Für diese Menschen ist das eben der Ort zwischen Supermarkt – dem Schwanenmarkt – und den Kneipen und Diskos hier um die Kirche herum, der Ort, von dem man vielleicht so salopp sagen kann, “wo es das Himmelsbrot gibt“.

Nehmen wir einmal an, das wäre nicht abwertend gemeint, nicht negativ, sondern eher agnostisch, unwissend, unentschieden, so wie die meisten Leute heute dem Christentum oder überhaupt Religionen gegenüberstehen. Und ein solcher Mensch würde diese Kirche betreten. Er wird hier etwas erfahren, das es sonst nirgendwo hier in der City zu erfahren gibt. Er erfährt einen großen Freiraum. Das ist ein großer Luxus, bei den Wohn- und Mietpreisen hier in der City. Und das ist das Geschenk, das sie als christliche Gemeinde den Menschen hier in der Innenstadt machen. Zwischen Supermarkt und Kneipe einen Freiraum zu schaffen, wo man nicht konsumieren muss, wo man nichts tun muss, um bleiben zu können, wo man sein kann, wie man ist, wo ich mich zweckfrei aufhalten darf, wo ich als Mensch angesprochen und angenommen bin. Und Menschen spüren das. Sie spüren das und sie suchen diese Orte, diese stillen Kirchenräume als Oasen, als wichtige Tankstellen für die Seele in der Hektik der Stadt. Das sagen auch Menschen, die von sich aus sagen, dass sie keine Kirchgänger sind. Zwischen Supermarkt und Kneipe ist dieser Ort ein Kontrast, und eben weil er ein Kontrast ist zum übrigen Raum dieser Stadt hat er eine ganz besondere Chance. Hier bietet sich nämlich der Kontakt zu einer Wirklichkeit, die über unseren sonstigen Alltag hinausgeht. Dieser Raum erinnert jedes Wesen daran, dass in ihm eine religiöse Sehnsucht lebt, die unausrottbar ist und die gestillt werden will.

Diese Sehnsucht findet in diesem Raum ihren Widerhall, ihre Entsprechung. In seiner Weite, im Gewölbe, das an den Himmel erinnert, in den wunderschönen Säulen, die unseren Blick nach oben ziehen und nicht zuletzt im Licht und in den Farben der Fenster von Hubert Spierling. Denn sie haben nicht Fensterglas wie die Schaufenster draußen vor der Kirchentür, sondern es sind kostbare, mit hoher künstlerischer Sensibilität ausgesuchte Gläser. Hier haben wir nicht die schrillen Farben der Reklame, sondern es sind gebrochene Farben, erdige Töne, zarte Farbverläufe, feine Nuancierungen und mit angedeutetem Goldschimmer an ganz kostbaren besonderen Orten. Wir finden hier nicht plakative Zeichen und Schriften, sondern suchende, feine Striche, die die Formen und Figuren nur zu umreißen scheinen, aber alles in einer Andeutung belassen. Ohne dass jemand die Geschichten kennt, die sich hinter diesen Fenstern verbergen, versteht er sofort durch das Material, durch die Farben- und Formensprache: hier beginnt eine andere Dimension in meinem Leben zu klingen. An diesem Ort bricht das Transzendentale in unsere irdische Welt ein, und die Fenster, sie sind die entscheidende Bruchstelle. In ihrer Schönheit, in ihrem Farbenspiel und ihrer Formsprache erahnt der Besucher etwas von dem Geheimnis, das dieser Ort für Eingeweihte birgt.

Der zweite Schritt: Wenn‘s dicke kommt – oder „die Brotwundererfahrung“
Zwischen Supermarkt und Kneipe, wo es Himmelsbrot gibt, – der Zugang ist nicht immer so harmonisch, wie ich es eben beschrieben habe. Supermarkt und Kneipe kann auch verstanden werden als ein Synonym für die Geschäftigkeit dieser City, für den täglichen Kampf ums Überleben, für die Spaßgesellschaft, die sich hier bis zur Besinnungslosigkeit amüsiert, für die Gefahr, abzurutschen in die Gefahr der Drogen und Süchte, für die Welt des Kommerzes, für den Kapitalismus, für die Angst um den Arbeitsplatz, der heute Menschen zur Selbstausbeutung treibt, für die zerstörerische Globalisierung unserer Welt, die gerade hier in der City neben Glas und Neon besonders lange Schatten wirft. Supermarkt und Kneipe stehen für eine Welt, die polarisiert. Eine Welt, die von uns eine kämpferische Haltung fordert, eine kämpferische, aber auch eine prophetische, wie sie uns in der Figur des Elia in der heutigen Lesung entgegentritt.

Elia ist in den Kampf gegangen beim Gottesurteil am Karmel. Und die Stunde seines größten Erfolges wurde zu seiner persönlichen Niederlage. Alles wächst dem Propheten über den Kopf, er flüchtet, zieht sich zurück in die Wüste. Das kennen wir doch, das kenne ich doch: es gibt doch solche Augenblicke in meinem Leben, wo ich sage „jetzt ist es genug“, „ich bin mit meiner Kraft am Ende“, „ich will nicht mehr“. Der Lebensmut ist weg, er rinnt mir durch die Hand wie Sand. Wo ich denke, „ich bin auch nicht besser als meine Väter“, d.h. wo die Selbstzweifel an mir nagen und meine Ideale zusammenbrechen. Das sind keine Stunden des erbaulichen Gebetes, sondern dann kommen Gefühle hoch wie Trotz, wie Enttäuschung, Verletzung, Ohnmacht und Wut. Und dann will ich einfach nur weg, Pause haben.

Und wo auch immer Ihr Fluchtpunkt sein mag, manchmal ereignet es sich dann, dass wir es spüren, dass wir es in uns hören, diese Worte: „Steh auf und iss!“ Das kann eine innere Stimme sein, das kann während eines Gespräches in einer Begegnung sein, das kann ich aus einem Telefonanruf heraus hören, in einem Text lesen, in einem Bild sehen oder in einem Musikstück hören. Solche Erfahrungen lassen in mir das Gefühl entstehen, ein Engel Gottes war bei mir und hat mir Kraft gegeben. Es gibt solche Erfahrungen, solche Worte, solche Begegnungen. Sie sind wie “Brot vom Himmel“. Die stehen plötzlich neben uns, wie ein köstliches frisch gebackenes Brot und klares kühles Wasser, wenn wir uns innerlich schon unter den Strauch gelegt und verabschiedet haben. Es gibt Erfahrungen, von denen sagen wir, dass sie Wunder sind. Nicht, weil sie so unverhofft und dann doch so passend gekommen sind. Nein, weil wir als Glaubende Gottes Liebe, Gottes Fürsorge und Gottes Mitgefühl darin erkennen können.

Von solchen Brotwundererfahrungen erzählen die beiden Außenfenster unseres Triptychons. Der grobe Aufbau ist auf den ersten Blick ähnlich: wir finden den weißen Rahmen, wie bei allen Fenstern, und dann einen Farbenrahmen aus blauen und ockererdigen Tönen. Die eigentliche Szene ist beide Male sehr zurückhaltend, in hellem Grau und Sepiatönen gehalten. Auffallend ist, dass jeweils der gleiche Teil, aber spiegelverkehrt, in dem blauen Rahmen durch die ockernen Töne, durch die golden schimmernden Töne ersetzt ist. In diesen dunklen Rahmen bricht etwas Helles, etwas Warmes hinein. Beide Szenen erwecken den Eindruck, als würde in etwas Dunkles, Bedrohliches etwas Helles, Warmes und Freundliches hinein brechen. Wer es genau wissen will, kann es nachlesen im Alten Testament auf der rechten Seite des Triptychons und im Neuen Testament auf der linken Seite. Rechts das Mannawunder: das Volk auf dem Weg durch die Wüste in die Freiheit, und wir sehen, wie es von Gott durch das himmlische Brot bei Kräften gehalten wird. Und links die Szene des Neuen Testamentes: die Speisung der Fünftausend, das neue Gottesvolk auf dem Weg der Nachfolge Jesu, wie es die Fülle Gottes zu schmecken bekommt, wie sie ihnen in Jesus Christus entgegentritt. Diese beiden Fenster erinnern mich daran, dass es auf dem Weg der Glaubenden durch die Zeit immer wieder solche Brotwundererfahrungen gab, und ich glaube felsenfest daran, dass es sie bis heute in der Kontinuität der Geschichte der Menschen mit Gott gibt.

Und der Rahmen mag sich noch so bedrohlich schließen, es gibt die offene Stelle, wo Gott warm, hell, liebend und fürsorgend in mein Leben kommt. Die feinen Linien skizzieren die Szenen jeweils nur flüchtig. Sie erzählen es in Andeutungen und lassen so viel offen, so viel Freiraum, wie ich brauche, um die Geschichte Gottes in meinem Leben suchend, tastend weiter zeichnen zu können. Die Fenster nehmen mich sozusagen hinein in die Brotwundererfahrungen der Offenbarung und öffnen mir gleichsam diesen Schatz zur Deutung meines eigenen Lebens.

Der dritte Schritt: Eine Frage von Leben und Tod – Gott schenkt sich selbst in Brot und Wein
„Zwischen Supermarkt und Kneipe, wo es Himmelsbrot gibt“, das kann ja wohl nur einer sagen, der die Tiefe des Geheimnisses der Eucharistie noch nicht erahnt. Denn hier öffnet sich nicht nur der Raum zu einer neuen spirituellen Lebensdimension, hier ist nicht nur der Ort zur Vergewisserung unserer Brotwundererfahrungen und der Geschichten von Gottes Liebe und Fürsorge, hier ist der Ort, an dem wir Eucharistie feiern, in der Gott in den Gaben der Eucharistie, in Brot und Wein wirklich da ist.

Lassen wir uns vom zentralen Fensterbild des Triptychons erzählen, wie wir uns an dieses Geheimnis herantasten können. Hier sehen wir den inneren Rahmen in warmen tiefen Rottönen. Es leuchtet uns entgegen, zieht die Blicke magisch an und deutet uns auch gleichzeitig an: hier ist das Zentrum, der Kern, hier geht’s ums Wesentliche, um die Existenz, unsere Existenz, hier geht’s um Leben und Tod. Es ist kein Rot, wie es Valentinsherzen schmückt oder wehende Fahnen. Es ist eher ein Rot wie das Blut kurz vor dem Gerinnen, wie eine Glut, die von einem Feuer noch einmal kräftig entfacht wird. Und schon die Farbwahl des Rahmens nimmt uns hinein in die dramatischen Umstände dieses Mahls: die Nacht vor Leiden und Tod. So, wie es der Heilige Vater in seiner Enzyklika zur Eucharistie vor kurzem noch einmal sehr schön formuliert hat. Blut und Glut erzeugt natürlich sofort das Bild von den alttestamentarischen Opferaltären, das Bild, das die jungen Christen Jesus Christus gegeben haben als dem Pessachlamm des neuen Bundes, das für uns geschlachtet wird. Blut und Glut erinnern an die Liebe, die bereit ist zur Hingabe, zur Hingabe des eigenen Lebens bis in den Tod für andere und für Gott. Und zwar nicht in irgendeinem übertragenen Sinne, sondern ganz konkret und ganz real in dieser Nacht, dargestellt auf diesem Bild, von der diese Szene erzählt mit den zwölf Jüngern. Hier nimmt Jesus sie hinein in dieses Geheimnis und nimmt damit uns hinein in sein Erlösungshandeln.

Vor diesem Hintergrund von Glut und Blut erkennen wir dreizehn Figuren in diesem Bild, die sich um einen Tisch versammelt haben. Wir sehen fünf golden glänzende Brote, die die Figuren zu verbinden scheinen. Sie liegen in der Mitte. Unten links erkennen wir Jesus mit Heiligenschein und ihm gegenüber Judas, der die Szene verläßt. Jesus läßt ihn gehen und sieht gleichzeitig uns als Betrachter an. Was bedeutet dieser Blick? Ist es ein fragender Blick, wie die Frage an die Juden, die wir eben im Evangelium gehört haben: „Glaubst du, dass ich das Brot des Lebens bin? Dass man von diesem Brot ewig leben wird? Oder willst auch du murren oder gehen wie Judas?“ Oder ist es ein Blick, der uns einlädt an diesen Tisch? „Tut dies zu meinem Gedächtnis“ bis in diese Stunde heute morgen hinein. Eine Einladung, die uns hinein nimmt in das Geheimnis dieses Mahles, in den neuen Bund Gottes mit uns Menschen. Dem Mahl, das die Keimzelle der Kirche bildet, der Gemeinschaft, die schon einen Vorgeschmack auf die Erlösung hier auf Erden hat – wenn sie von diesem Brot isst.

Dieses Mahl der Eucharistie, es ist das spirituelle Zentrum dieser Kirche, dieses Ortes hier. Zwischen Supermarkt und Kneipe ist Gott in der Eucharistie hier wirklich da. Hier lädt er uns ein, hier verteilt er sich, hier stiftet er Gemeinschaft, und hier lässt er Judas gehen und überwindet am Kreuz den Tod für immer. Zwischen Supermarkt und Kneipe – ein Ort, an dem Gott uns sein ewiges Leben schenken will. Davon künden wahrlich auch die Fenster von Hubert Spierling.

Epilog
Lassen Sie mich zum Ende noch eine kleine Begebenheit erzählen: Ich habe jetzt viel geredet über das Geheimnis dieses Ortes, das Licht und das farbige Glas. Bei meinem Vorbereitungs­besuch mit Pfarrer Lücker hier in der Kirche, wo ich mir diese Fenster angeschaut habe, sind wir hinterher zurück auf dem Weg zu seiner Wohnung an der bekannten Krefelder Hausbrauerei vorbei gekommen. Und da wir beide Durst auf ein Kühles hatten, haben wir uns gesagt, wir genehmigen uns eins und stellen uns mal eben ans Rähmchen. Und als wir dann das Glas vor uns auf dem Stehtisch stehen hatten, habe ich das Glas hochgehoben und es gegen die Abendsonne gehalten. Und die Farbe leuchtete rötlich golden. Sie erinnerte mich an die Farbe, die ich auch hier in diesem Fenster gefunden habe. Und ich spürte in mir eine stille Freude und eine Lebenslust. Und Gott war mir sehr nahe, und er zwinkerte mir zu unter den Menschen, die um uns herum an den Stehtischen standen.